Kolumbien / Ecuador 1998
... Chimborazo !
(Steffen Kircheisen, Hendrik Zimmermann und Heiko Otto)
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Das neue Jahr - wir schreiben 1998 - ist gerademal sieben Tage alt. Zufrieden mit mir und der Welt sitze ich im Flugzeug. Flug über den AtlantikIn gut drei Stunden beginnt der Landeanflug auf Bogota - die mehr als 2600 m über dem Meeresspiegel gelegene Metropole Kolumbiens. Alles läuft bestens, obwohl vorgestern noch nicht einmal feststand, ob wir zu dritt oder zu zweit auf Reisen gehen - oder ob ich dieses Abenteuer gar alleine in Angriff nehmen muss. Buchstäblich in letzter Sekunde war der Urlaub von Hendrik Zimmermann, einem Freund aus Dresden, genehmigt worden. Und Steffen Kircheisen aus Greiz erhielt sein Flugticket, nach wochenlangem Streit mit "British Airways" erst in der Schalterhalle des Frankfurter Flughafens. Doch genug von all dem Ärger - es ist ja letztlich alles gut gegangen.

Obsthändler in BogotaOrtszeit: 2230 Uhr. Die Maschine setzt sicher auf der Landebahn des "Aeropuerto Internacional El Dorado" in Bogota auf - die erste Etappe unserer Reise liegt hinter uns. Die vor uns liegende Tour ist recht gut vorbereitet. Wochenlang habe ich Karten und Bücher studiert, um einen Traum zu verwirklichen: Die Besteigung des Vulkans "Chimborazo" in Ecuador ! Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Zu allererst einmal müssen wir uns akklimatisieren ...

Der erste Tag verstreicht mit den üblichen Vorbereitungen: Geld tauschen, Busverbindungen heraussuchen, Proviant kaufen. Ganz wichtig sind auch aktuelle Informationen über die Lage im umkämpften Süden des Landes Mit dem Bus nach Guatavitaund die Beschaffung von diversem Kartenmaterial, welches wir direkt beim Militär - genau gesagt vom "Militärgeographischen Institut von Bogota" - bekommen.

Am nächsten Tag verlassen wir die Hauptstadt mit einem etwas klapprigen, dafür aber herrlich bunt bemalten Bus Richtung Nordosten. Es gilt Höhe zu gewinnen. Nur wenige Kilometer außerhalb Bogotas bietet sich eine erste Gelegenheit, unsere Kondition zu testen. "Guatavita" - Kraterlagune von Guatavitaein idyllisch gelegener Kratersee (übrigens angeblich der Ursprungsort der Legende von "El Dorado"), runde 3000 Meter über Meeresniveau. In brütender Hitze und mit voller, gut und gerne 25 kg wiegender Ausrüstung, die jeder von uns auf dem Rücken trägt, eine anstrengende und schweißtreibende, aber dennoch lohnende Wanderung.

Einen Tag später sitzen wir bereits wieder im Bus - diesmal jedoch in einem modernen, leidlich bequemen Fernreisebus - und rollen gen Süden. Kirche "Santo Domingo" in PopayanUnser Ziel ist die alte Kolonialstadt Popayan am Oberlauf des "Rio Cauca". Wir fahren, um Zeit zu sparen, nachts und nehmen damit wohl oder übel in Kauf, nicht viel von der herrlichen Berglandschaft der östlichen und mittleren Kordilleren zu sehen. Ziemlich gerädert erreichen wir knappe vierzehn Stunden später Popayan, die "Weiße Stadt", wie sie auch genannt wird. Wir gönnen uns kaum die Zeit für eine Verschnaufpause, erkunden das wirklich sehenswerte Popayan im Schnelldurchlauf und erfragen nebenbei gleich noch die weiteren Busverbindungen ins östlich gelegene Bergland. Schon am folgenden Morgen, lange noch vor Sonnenaufgang, sind wir wieder auf Achse - zusammengequetscht wie die Heringe in einem der museumsreifen, Auf dem Weg zum Purace-Nationalparkarg überfüllten Uraltbusse, die die kürzeren Überlandstrecken bedienen. Vor uns liegt das erste große Ziel der Reise: die Berge des "Purace-Nationalparkes" inmitten der hoch aufragenden "Cordillera Central". Hier wollen wir unser eigentliches Höhentraining absolvieren und dem Namensgeber des Parks - dem Vulkan "Purace" - einen Besuch abstatten.

Die Tour beginnt in den frühen Morgenstunden des 10. Januar 1998. Die ersten Strahlen der Morgensonne künden von einem satten Sonnenbrand. Wir folgen einer schmalen Piste bis zum offiziellen Eingang des Nationalparks. Dort steht unser erstes Problem: Die schwer bewaffneten Parkwächter ! Am Eingang des NationalparksSie wollen uns mit unseren prallgefüllten Kraxen nicht in den Park lassen. Zu Recht befürchten sie, dass wir den kleinen Besuchertrampelpfad verlassen und über Tageslänge in der Wildnis des Naturreservates bleiben wollen. Dies sei nicht zulässig und viel zu gefährlich - mal ganz davon abgesehen, dass sich der Park im derzeitigen Operationsgebiet der FARC*-Guerilla befindet und somit für Besucher ohnehin geschlossen ist ! Das passt natürlich ganz und gar nicht in unsere Pläne. Ausgerüstet mit einem völlig unzulänglichen Wörterbuch Aufstieg zum Vulkan "Purace"und unseren sehr mageren Spanischkenntnissen trotzend, versuchen wir die Paramilitärs zu überreden, für uns diesbezüglich eine Ausnahme zu machen. Weniger die Hartnäckigkeit, mit der wir auf der Passage bestehen, als vielmehr die Tatsache, dass wir über militärische Karten des Gebietes verfügen, weicht den Widerstand der Posten schließlich auf. Aus irgendeinem Grund funktioniert deren Feldtelefon gerade nicht, was Rückfragen bei einem vorgesetzten Offizier vereitelt. Ein Pluspunkt für uns. Mit der Versicherung, Schwefel und ätzender Dampf in der aktiven Zonedass wir uns in spätestens drei oder vier Tagen wieder melden werden, gelingt uns schließlich (zu unserer eigenen Überraschung) der "Durchbruch": Wir dürfen passieren !

Der Aufstieg kann beginnen. Den ersten Abschnitt gehen wir viel zu hastig an. Aber sicher ist sicher - nicht dass es sich die überrumpelten Wachposten doch noch anders überlegen und uns zurückpfeifen. Entsprechend schnell kommen wir außer Atem. Der Schweiß läuft in Strömen, und die schweren Kraxen drücken fürchterlich auf den Schultern. Die Abstände zwischen den Atempausen werden immer kürzer - und das auf kaum mehr als 3200 m über dem Meeresspiegel - der halben Höhe des "Chimborazo". Hilfe ! Keuchend schleppen wir uns und das Gepäck weiter, Siesta, 4000 m ü.NNMeter für Meter, jetzt endlich betont langsam. Nach stundenlanger anstrengender Kraxelei und zwei längeren Pausen erreichen wir am frühen Nachmittag einen Sattel, der uns einen ersten Blick auf den oberen Teil des Vulkankegels gewährt. Das gibt neue Kraft. Noch knapp 600 Höhenmeter trennen uns vom Gipfel - doch diese scheinbar so kurze Stecke hat es gewaltig in sich. Eine dichte ätzende Schwefelfahne aus einem der Nebenkrater weist unmissverständlich darauf hin, dass der Vulkan keineswegs erloschen ist. Das Atmen in der ohnehin schon ziemlich dünnen Atmosphäre wird zur Qual, der weitere Anstieg zu einem verbissenen Ringen mit dem Berg !

Am Ziel: Der Gipfel des Vulkans "Purace"1710 Uhr. Etwas über dreizehn Stunden nach unserem Aufbruch von Popayan erreichen wir den Gipfel des 4760 m hohen Vulkans "Purace" im gleichnamigen Nationalpark. Vor unseren Füßen öffnet sich der Schlund seines gewaltigen Hauptkraters. Geschafft ! Ein grandioses Panorama über weite Teile des Parks lässt uns die Mühen des Aufstiegs schnell vergessen. Die erste "Trainingseinheit" für den Chimborazo ist erfolgreich gemeistert.

Kurze Verschnaufpause vor dem AbstiegDie Nacht verbringen wir gute 500 m tiefer an der Flanke des Vulkans. Die schnell hereinbrechende Dunkelheit macht es nicht einfach, einen sicheren Platz für unser Zelt zu finden. Noch schwieriger gestaltet sich die Suche nach Trinkwasser. Im Schein der Stirnlampen entdecken wir schließlich ein schmales Rinnsal - die kläglichen Reste der Schneeschmelze vom Gipfel.

Der neue Morgen bringt schlechtes Wetter. Wir ignorieren vorerst die tiefhängenden Wolken, packen Wegzehrung in die Rucksäcke und laufen los. Das Zelt und der Großteil der Ausrüstung bleiben zurück - in dieser einsamen Gegend kein Risiko. Unser zweites Ziel heißt "Pan de Azucar" - "Zuckerhut", ein weiterer nicht ganz 5000 m hoher Vulkan innerhalb des Nationalparks. (Seinen Namen verdankt der Berg seiner weißen, nur selten abtauenden Schneekuppe.) Faszinierende Pflanzenwelt in fast 4000 m ü.NNDer erste Abschnitt der Tagesetappe ist verhältnismäßig einfach; führt über eine steinige, mäßig ansteigende Hochebene. Die einzig nennenswerten Hindernisse sind ein paar Gräben, die es zu überwinden gilt. Ein kristallklares Wasserloch inmitten eines kleinen Talkessels, in dessen Umgebung sich eine regelrechte Hochgebirgsoase mit großen steinharten Mooskissen und anderen, uns vollkommen fremdartig erscheinenden Pflanzen gebildet hat, bietet sich geradezu als Platz für eine erste Rast an. Für ein paar hoffnungsvolle Minuten reißt der Wind sogar die hässlich graue Wolkendecke auf Durch Buschland und Bergdschungelund gewährt uns einen kurzen Blick auf den gar nicht mehr so fern erscheinenden Gipfel des "Zuckerhuts". Doch noch bevor wir weiterziehen können, verwandeln tiefhängende Wolkenschleier die Landschaft erneut in eine Art alpine Waschküche. Noch immer auf besseres Wetter hoffend, setzen wir unseren Weg trotzalledem fort, nun steil bergan, direkt auf den Kegel des Vulkans zu. Eine Halbestunde später hat sich zum Nebel auch noch eisig kalter Nieselregen gesellt. Die Sicht beträgt kaum mehr als 50 Meter. Unter solchen Bedingungen ist eine Bergbesteigung nicht nur unschön, sondern kreuzgefährlich. Ein wenig enttäuscht brechen wir die Aktion ab.

Der Abstieg - nun wieder mit den schweren Kraxen auf dem Rücken - gestaltet sich schwierig: Über ein sehr steiles und tückisch lockeres Asche- und Geröllfeld gelangen wir in ein weit verzweigtes Grabensystem - der Abfluss des Schmelzwassers der Berggipfel. Im Nebel fällt die Orientierung schwer. Scharfkantige Steine und von einzelnen Grasbüscheln verdeckte, mitunter recht tiefe Rinnen machen jeden Schritt unsicher. Vereinzelte Felsabbrüche werden zu kaum überwindbaren Hindernissen. Und dennoch es geht abwärts, Meter um Meter - und ganz allmählich reißt der Nebel auf.

Drei Stunden später hat sich das Bild gründlich geändert: Anstatt der bizarren, meistenteils kahlen Basaltfelsen umgibt uns eine rauhe, feuchte Graslandschaft. Mannshohes Paramogras und kleinere Büsche versperren unseren Weg. Seltsame Gewächse der HochebeneWir müssen mühsam, Schritt für Schritt, einen Pfad durch diese immer dichter werdende Wildnis bahnen, die uns still aber verbissen Widerstand zu leisten scheint. Ständig verhaken sich die Kraxen im zähen Gestrüpp, gibt der trügerische Boden unter unseren Füßen nach, versinken wir knietief im Morast oder eiskaltem Wasser. Innerhalb weniger Minuten sind Schuhe und Hosen völlig durchweicht.

Das Grasland geht in Buschland über und dieses wiederum in dichtesten Bergdschungel. Eine Nacht im HochmoorKnorrige, dick mit Moosen und Flechten bedeckte Bäume, Schlingpflanzen, Luftwurzeln, heckenartiges Unterholz und tiefe, fast senkrechte Felsabbrüche versperren unseren Weg. Immer wieder müssen wir die Kraxen abstellen und nach einem Durchschlupf suchen. Und immer wieder bauen sich danach neue, noch schwierigere Hindernisse auf ! Dabei hatte das auf der topografischen Karte alles so einfach ausgesehen ...

Mehr als fünf Stunden benötigen wir, um eine Strecke von vielleicht 1000 Metern Luftlinie zu überwinden. Mit aller Kraft durch's MoorSchmutzig, zerkratzt und völlig erschöpft lassen wir den Urwald schließlich hinter uns. Vor uns liegt ein weites ebenes Grasland mit herrlich blühenden Pflanzen. Hurra - wir haben es geschafft ! Doch der Schein trügt. Die Ebene entpuppt sich als heimtückischer Morast, gespickt mit unzähligen pflanzlichen Stolperfallen. Enttäuscht und entkräftet schleppen wir uns durch das Moor, um Stunden später - die Dämmerung ist schon fast vorrüber - wieder am dichten Saum des Urwalds anzukommen.

Die Nacht verbringen wir auf einem halbwegs trockenen Flecken Erde am Rande des Hochmoors. Der Dschungel - eine schier undurchdringliche WandFür die Suche nach trinkbarem Wasser ist es bereits zu dunkel und - mal ganz davon abgesehen - wir sind eh viel zu müde, um auch nur einen einzigen zusätzlichen Schritt zu tun. Das Abendessen fällt also kurzerhand aus. Der nächsten Morgen beginnt mit einem eher kärglichen Frühstück. Wir müssen sparsam sein, da ungewiss ist, wie lange unsere Odyssee durch die Wildnis noch andauern wird. Gute zwei Stunden verbringen wir mit der Suche nach einer halbwegs gängige Urwaldpassage - vergeblich ! Letzten Endes hilft wieder einmal nur rabiate Gewalt: Verbissen bahnen wir uns, genau wie gestern, selbst einen Weg durch das dichte, dunkle, modrige Gehölz. Den einzig verlässlichen Orientierungspunkt bildet dabei die Nadel des Kompasses. Stellenweise wird der Boden sumpfig, so dass wir uns in der "2. Etage" - im zwei bis drei Meter über dem Boden hängenden Luftwurzelgeflecht - vorwärts kämpfen müssen. Die Geysire von "San Juan"Hin und wieder kracht es im morschen Geäst und einer von uns bricht mitsamt seinem Gepäck durch - Hauptgewinn ! Schwer zu sagen, was unangenehmer ist: Der Sturz in den hüfttiefen Modder oder der anschließende Kampf, wieder daraus freizukommen. Und so geht es den ganzen Tag - Urwald und Sumpf, Sumpf und Urwald. Wir finden uns fast schon mit einer weiteren Nacht im Dschungel ab. Doch dann, wir brauchen einige Sekunden, um es wirklich zu glauben, wird das Unterholz lichter, der Boden fester. Unvermittelt stehen wir auf der schmalen, den Park durchschneidenden Piste, die wir eigentlich schon gestern Mittag hatten erreichen wollen. Zweieinhalb Tage für knapp acht Kilometer ! Prä-inkaische Gräber auf dem "Alto de los Idolos"Ein härteres Training hätten wir uns wahrlich kaum wünschen können.

Wie auf Bestellung erscheint wenige Sekunden nach unserem "Auftauchen" aus dem Dschungeldickicht einer der herrlich bunten Busse und nimmt uns auf Handzeichen - wie das in Südamerika so üblich ist - mit. Vom Fahrer und den Fahrgästen werden wir wie Außerirdische begafft - nun ja, irgendwie sehen wir auch so aus: schwarz vom Schlamm, die Kleidung zerschlissen, abgerissene Zweige und Blätter im völlig zerzausten Haar. Wir lassen uns einige Kilometer weiter in unmittelbarer Nähe einiger kleiner Geysire und heißer Quellen absetzen. Eine gründliche Reinigung tut dringend Not !

Bauern bei der Zuckerrohr-ErnteDie folgenden Tage vergehen etwas ruhiger. Wir durchwandern das Gebiet von "San Agustin", durchqueren den tiefen Canyon, den der "Rio Magdalena" hier ins Gebirge geschnitten hat, besichtigen alte indianische Kultstätten auf dem "Alto de los Idolos" und "helfen" den Bauern bei der Zuckerrohrernte.

Am 16. Januar überqueren wir die Grenze nach Ecuador (und den Äquator selbst) und fahren mit dem Bus nach "Riobamba". Indio-Markt in RiobambaDie Stadt liegt in Sichtweite des höchsten Vulkans der Welt - des "Chimborazo" - unserem großen, nun schon beeindruckend nahen Ziel. Vor Ort klappern wir sämtliche Agenturen (und es gibt erstaunlich viele davon), welche Bergführer vermitteln und die dringend erforderliche Ausrüstung vermieten, ab. Letztendlich ist alles unter Dach und Fach: Für insgesamt 450 US$ haben wir zwei Bergführer engagiert und uns mit Steigeisen, Eispickeln und Seilen versehen. Als Termin für den Aufstieg haben wir den 20. Januar vereinbart.

Frohen Mutes begeben wir uns per pedes auf den Weg zum "Chimbi" - wie wir den Berg inzwischen feierlich getauft haben. Zum Greifen nah: der Gipfel des Vulkans "Chimborazo"Von Riobamba bis zum Fuß des Vulkans ist es mehr als ein voller Tagesmarsch. Wir verkürzen diese Zeit etwas, indem wir uns von einem LKW ein paar Kilometer mitnehmen lassen. Der "Chimbi" präsentiert sich den ganzen Tag über mit seiner leuchtend weißen Schneekappe majestätisch vor einem strahlend blauen Himmel. Das satte Grün und Gelb der uns umgebenden blühenden Weiden bildet einen wunderschönen Kontrast dazu. Der Tag vergeht wie im Fluge; bis schließlich die untergehende Sonne mahnt, das Nachtlager aufzuschlagen. Während die indianischen Hochlandbewohner Frei lebende Vicuñas - eine Rarität !ihr Vieh zurück in die Stallungen treiben, bauen wir unser Zelt auf - jetzt schon in direkter Nachbarschaft zur steil aufragenden Flanke des Berges.

Im Laufe des nächsten Tages lassen wir die Weiden hinter uns und erreichen ein karges steiniges Hochplateau. Mit viel Glück sehen wir eine Herde der seltenen "Vicuñas" - fast 30 Tiere - unglaublich ! Unser Lager errichten wir auf exakt 4800 m ü.NN, in unmittelbarer Nähe des "Refugio Carrel" - Blick aus dem Zelt in ca. 4800 m ü.NNder vorletzten am Berg errichteten Schutzhütte. Genau hier wollen wir uns morgen Abend mit den beiden Bergführern treffen.

Die Nacht wird eiskalt. Bei -10°C bildet sich eine glitzernde Eisschicht auf dem Zelt. Die ersten kräftigen Strahlen der Morgensonne treiben uns aus den Schlafsäcken. Kaum steigt die Temperatur, umschwirren zwei Colibris das Zelt auf der Suche nach Blütennektar. Am kleinen Gletscherbach neben dem Zelt stehen einige Staudenpflanzen. Der Morgen ist herrlich. Hoffentlich haben wir morgen früh ähnlich gutes Wetter - denn dann wird es ernst !

Die höher steigende Sonne heizt die Luft erstaunlich schnell auf. Im Nebental donnern kurz hintereinander mehrere Lawinen in die Tiefe. Ein unheimliches Geräusch ! Steffen geht es schlecht. Wir können nur hoffen, dass er morgen wieder fit ist. Noch 36 Stunden bis zum AufstiegHendrik und ich vertreiben uns die Zeit mit Erkundungsgängen in die nähere Umgebung und einer recht mühsamen Konversation mit zwei Indios. Am Nachmittag kommen die Bergführer. Zwei junge Burschen - Raul und Segundo - mit Null-Kenntnis in Englisch. Na prima. Der Chef der Agentur hatte das Gegenteil behauptet. Ich baue das Zelt ab, und gemeinsam bringen wir die 200 Höhenmeter bis zum "Refugio Whymper" - der nach dem Erstbesteiger des "Chimborazo" benannten oberen Schutzhütte - hinter uns. v.l.n.r.: Heiko, Raul, Hendrik, Segundo und SteffenMakabererweise säumen den schmalen Pfad ein gutes Dutzend Gedenksteine mit den Namen der an diesem Berg tödlich verunglückten Bergsteiger. In der Hütte richten wir uns halbwegs häuslich ein. Der Stromgenerator funktioniert nicht - aber das stört keinen. Nach einem zeitigen, von unseren Führern kredenzten Abendessen begeben wir uns zu Bett. Ich kann nicht schlafen. Das Essen hat gut geschmeckt, liegt jedoch furchtbar schwer im Magen.

19. Januar 1998, 2300 Uhr. Die Nacht, die eigentlich gerade erst begonnen hat, ist für uns schon wieder zu Ende. Unser Ziel: Der Gipfel des Vulkans "Chimborazo"Mir ist hundeelend zumute. Ein kurzes Frühstück (ich bekomme kaum einen Bissen herunter), ein letzter Check der Ausrüstung (die Stirnlampe von Raul ist defekt, lässt sich auch nicht reparieren) - und los geht's. Die ersten Meter über ein Geröllfeld - normalerweise harmlos - sind im dürftigen Lichtschein der Lampen nicht ganz ungefährlich. Nach einer halben Stunde erreichen wir das erste große Hindernis: Die senkrechte, gut zehn Meter hohe Eiswand des Gletschers. Raul steigt vor und sichert uns dann. Ich lerne unfreiwillig wie es ist, plötzlich im Seil zu hängen. Das Eis bricht unter meinem Eispickel, und schon ist es passiert. Kurz nach Mitternacht: Beginn des Aufstiegs zum GipfelZum Glück läuft die Sache glimpflich ab - ein paar Kratzer, nicht mehr. Viel schlimmer ist, dass sich bei Hendrik immer wieder ein Steigeisen löst. Ein Reparaturversuch von Segundo scheitert. Alle paar Minuten lockert sich das Eisen von neuem - und das auf einem Eishang mit einem Gefälle von gut und gern 45 bis 50 Grad ! Zum ersten Mal wird von Umkehr gesprochen.

415 Uhr. Gut die Hälfte des Aufstiegs liegt hinter uns. Unvermittelt bleibt Segundo stehen, verkündet, ihm sei übel; er müsse sofort zurück ins Lager. Na prima. Eigentlich hatten wir zwei Führer genommen, für den Fall, dass einer von uns nicht mehr weiter kann. Sonnenaufgang in ca. 5900 m ü.NNNun gut, muss es halt mit einem Führer weitergehen. Raul ist von diesem Gedanken offensichtlich nicht begeistert. Er legt trotz Hendriks Problemen mit den Steigeisen ein mörderisches Tempo vor und fragt bei jeder Pause, ob wir nicht doch lieber umkehren wollen. Mir platzt der Kragen. Zornig schiebe ich Raul beim nächsten Versuch, Hendriks Eisen vernünftig zu befestigen, zur Seite und versuche es selbst. Es gelingt mit Hilfe zweier Schnürsenkel. Bezahlen muss ich dafür allerdings mit dem Verlust eines Handschuhs. In Sekundenbruchteilen entschwindet dieser auf der irrsinnig steilen Schneedecke meinem Blick. Probleme mit der Ausrüstung rauben uns viel ZeitWeiter geht es in einem Tempo, welches wir bestimmen - auch wenn Raul murrt und auf Lawinengefahr verweist.

Mittlerweile ist es hell geworden. Tief unter uns ist das Dach des Refugios als winziges gelbes Pünktchen zu erkennen. Unsere Kräfte schwinden spürbar. Die Abstände zwischen den Pausen werden immer kürzer. 50 Schritte - Pause - 50 Schritte - Pause. Vor allem Hendrik hat wegen des verflixten Steigeisens viel Kraft verloren. Gigantische Eiskaskaden versperren den Weg300 Höhenmeter unter dem Gipfel bleibt er auf eigenen Wunsch zurück, nachdem ihm Raul einen notdürftigen Windschutz im Schneehang ausgehoben hat. Der letzte Abschnitt wird fast zum Alptraum. Wir erhöhen unser Tempo, um Hendrik nicht allzu lange warten zu lassen. Außerdem steigt die Gefahr der Lawinenbildung tatsächlich von Minute zu Minute. Die Sonne ist bereits aufgegangen !

20. Januar 1998, 730 Uhr. Es ist geschafft - hurra ! Wir stehen auf dem - gemessen vom Erdmittelpunkt - höchsten Berg der Welt: 6310 Meter über dem Meeresspiegel ! Ich könnte schreien vor Glück - aber dazu fehlt mir die Luft. 6310 m ü.NN - der Gipfel des Vulkans "Chimborazo"Wir gönnen uns mit Rücksicht auf Hendrik nur ein paar kurze Augenblicke der Erholung. Der Ausblick vom Gipfel ist überwältigend: Im Norden, und dank der klaren Luft bestens zu erkennen, überragen die weißen Spitzen des "Iliniza" einem Kranz aus Wolken. Nicht weit davon entfernt reckt sich der annähernd symmetrische Kegel des "Cotopaxi" in den Himmel. Tief unter uns, gebadet in den leuchtenden Farben der Morgensonne, erstreckt sich das Bergland bis hin zur "Straße der Vulkane". Wunderbar !

Kaum hat sich der Puls einwenig beruhigt, mahnt Raul uns zum Aufbruch. Der Abstieg erscheint endlos. Wir haben Hendrik wieder aufgelesen und versuchen nun mit Höchstgeschwindigkeit aus der lawinengefährdeten Zone zu entkommen. Der Schneehang wirkt im hellen Tageslicht noch viel steiler als beim nächtlichen Aufstieg. Es kostet eine Menge Überwindung, senkrecht zu dieser gigantischen Rutschbahn zu laufen. Raul verlangt zu unsrer Verwunderung, dass wir den Gletscherabbruch umgehen. Das kostet nochmals Kraft, obwohl Abseilen doch viel einfacher gewesen wäre. Nun, wenn es denn sein muss. Die letzten Meter, vorbei an einer riesigen Orgel aus Eis und den Kaskaden eines Gletscherbachs, dann ist das Refugio erreicht, wo uns Segundo mit einem heißen, wohl verdienten Tee erwartet.

*) FARC = "Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia"

Bericht: Heiko Otto
Januar 1998     

Kommentar
Südamerika 1996 Kolumbien 2001
 

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